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Prof. Dr. Jonas Tesarz ist geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Uniklinikum Heidelberg. Mit einem Team ist er der Frage nachgegangen, was Schmerz in Leid verwandelt. Und er hat festgestellt: Zu diesem Thema gibt es bislang nur wenige systematische Untersuchungen, geschweige denn passende Therapie-Instrumente.

Herr Prof. Tesarz, viele Menschen kennen das ja: Sie sitzen mit Schmerzen bei Arzt oder Ärztin und werden gefragt: „Auf einer Skala von 1 bis 10, wie stark ist denn Ihr Schmerz?“ Wie sinnvoll ist das denn? Jeder Mensch hat ja ein anderes Schmerzempfinden.

Prof. Dr. Jonas Tesarz, Geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Uniklinikum Heidelberg

Prof. Dr. Jonas Tesarz, Geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Uniklinikum Heidelberg

Jonas Tesarz: Auf der einen Seite ist es sinnvoll, weil man wenig Möglichkeiten hat, um zu vermitteln, wie schmerzhaft sich das Kopfweh oder das Stechen in der Hüfte anfühlt. Auf der anderen Seite bergen solche Ratings die Gefahr, dass man in der Rolle des Arztes übersieht, wie komplex das Phänomen Schmerz ist. Und man vergisst dabei auch, dass das Leiden im Schmerz noch mal was ganz anderes ist als der Schmerz selbst. Dass das ganz unabhängig von der Schmerzintensität ist.

Kommt es auch darauf an, ob der Schmerz akut ist oder ob dieser schon länger besteht?

Tesarz: Wie sehr der Schmerz mit Leid einhergeht, ist gerade beim chronischen Schmerz von zentraler Bedeutung. Beim akuten Schmerz geht es dagegen vor allem um die Frage: Welche Funktion hat der Schmerz? Welchen Defekt zeigt er an? Als eine Alarmglocke, die darauf hinweist, dass irgendwas im Körper gerade bedroht ist. Beim chronischen Schmerz geht diese akute Warnfunktion zunehmend verloren oder tritt in den Hintergrund. Der Schmerz wird zu einem eigenständigen Krankheitsbild.

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Und was macht dann aus, wie stark man dann unter dem Schmerz leidet?

Tesarz: Wenn Schmerz dazu führt, dass man sich in seiner Wahrnehmung selbst in Frage stellt oder als Person in Frage gestellt wird, dann nimmt der persönliche Leidensdruck zu. Ein Beispiel: Ein Migräne-Anfall kann sehr intensiv sein oder auch weniger. Bei einer Person, die sich stark darüber definiert, dass sie immer gesund und leistungsfähig ist, können solche plötzlich auftretenden Attacken zu einem höheren Leid führen als bei jemandem, der sich als Person viel breiter definiert oder ein stabileres Selbst hat.

Die Schmerzintensität und das Leiden hängen also auch mit der Psyche zusammen?

Tesarz: Es kommt viel mehr auf die eigene Bewertung des Schmerzes an. Auch dazu ein Beispiel: Bei religiöser Selbstgeißelung, bei der sich Menschen früher selbst Schmerzen zugefügt haben, haben sie sich ja im Leiden Christi, also im Schmerz identifiziert mit Gott. Diese Bewertung hat ihr Leid dabei gemindert, denn zu leiden, hat ja einen Sinn in diesem Fall. Wenn Schmerz aber keinen „übergeordneten“ Sinn ergibt, kann sich auch das Leiden unter diesem Schmerz vergrößern.

Was kann ich denn als Betroffener tun, um weniger zu leiden?

Tesarz: Um diese Frage zu beantworten, muss man zuallererst wissen, dass es ganz unterschiedliche Ebenen gibt, auf denen Menschen leiden. Während vielleicht die eine Person vordergründig vor allem auf der körperlichen Ebene leidet, leidet die andere eher auf einer sozialen Ebene.

Haben Sie dafür konkrete Beispiele?

Tesarz: Ein Mensch, der an Krebs erkrankt ist und Schmerzen hat, leidet vielleicht auf existenzieller Ebene am meisten. Er kämpft mit Todesangst, auch mit existenziellen Sorgen über sein Leben. Es gibt aber auch Menschen, die vielleicht durch Schmerzen eher auf der sozialen Ebene leiden, wie dem Verlust an Autonomie oder durch fehlende Unterstützung von außen. Und ein Dritter hat durch Schmerzen seine Freude verloren und kämpft nun mit einer Depression oder Ängsten. Oder nehmen wir Endometriose, eine Erkrankung, die stigmatisiert ist, wo die Betroffenen vielleicht auch auf kultureller Ebene leiden.

Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, diese Ebenen in die Schmerz-Therapie einzubeziehen?

Tesarz: Stellen wir uns vor, ein Patient leidet vor allem auf einer körperlichen Ebene. Der Arzt versucht aber auf der psychologischen oder der kognitiven Ebene, das Ganze zu bewältigen oder zu therapieren. Dann ist das nicht so erfolgsversprechend. Auch wird es schlechter funktionieren, wenn eine Patientin, die vor allem unter den sozialen Folgen ihres Schmerzes leidet, vom Arzt nur auf körperlicher Ebene behandelt wird. Man wird die Lebensqualität nie soweit verbessern können, wie man es könnte, wenn man individuell, persönlich, personalisiert das Leiden adressiert.

Was wäre entsprechend Ihr Ansatz für die Zukunft?

Tesarz: Ich würde mir wünschen, dass Ärzte und Therapeutinnen mehr Zeit haben, besser zu verstehen, auf welcher Ebene der Betroffene eigentlich leidet. Es braucht einfach ein besseres Verständnis von der Person in ihrer gesamten Situation. Um gezielte Therapien auf die jeweilige Person aber abstimmen zu können, braucht es auch Instrumente, mit denen wir Leiden und Schmerz standardisiert erfassen können, etwa Screenings oder Fragenbögen. Dafür wollen wir als nächstes eine Studie mit Betroffenen durchführen.


Quellen:

  • Noe-Steinmüller N, Scherbakov D , Zhuravlyova A et al.: Defining suffering in pain. A systematic review on pain-related suffering using natural language processing. Online: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 11.04.2024)